Warum tut sich die Industrie, oder genauer gesagt und oft genannt, der Mittelstand (KMU) so schwer mit dem Thema Industrie 4.0? Oder stimmt das vielleicht gar nicht?
Ein Standpunkt zu Industrie 4.0
Viele Definitionen zu diesem Thema sind für mich recht hochtrabend, zu abstrakt und auf jeden Fall klingt es meist sehr teuer.
Generische Erklärungsversuche sind mir zu nebulös und wenn ich das Ganze nicht verstehe oder nicht auf meine Situation übertragen kann, würde ich das Thema auch erst mal vor mir herschieben. Einige meiner Kunden können das Thema Industrie 4.0 schon gar nicht mehr hören.
Tatsächlich sind viele schon mittendrin in der Industrie 4.0 und merken es gar nicht, wieder andere wähnen sich mittendrin, sind aber meilenweit davon weg.
So pauschal man das nicht sagen kann, so kann man zum Beispiel Industrie 4.0 auch nicht kaufen. Meiner Ansicht nach ist Industrie 4.0 das, was man jeweils daraus macht.
Werkzeugmaschinen-Industrie
In der Werkzeugmaschinen-Industrie ist z.B. eine Werkzeugverwaltung mit Hilfe von RFID seit über 15 Jahren ein Standard. Hier werden Werkzeuge mit einem Datenträger versehen, auf dem sich Grunddaten wie Werkzeugname, Standzeit, und Abmessungen enthalten. Es kann mit Tool-ID der komplette Lebenslauf des Werkzeuges direkt am Werkzeug hinterlegt werden. Ideale Voraussetzungen für den Aufstieg in den Olymp der Industrie.
Eher ein Nebeneffekt dabei ist die automatische Handhabung der Tools und die Verwaltung im Werkzeugmagazin, das mehrere Maschinen bedienen kann. Das gehört noch zur Automatisierungstechnik der 3. industriellen Revolution.
Kunststoffindustrie
In der Kunststoffindustrie werden Werkzeuge (Formen) die einen wesentlich höheren Wert darstellen auch heute noch mit Werkzeugbüchern verwaltet. Bei solchen Spritzgießwerkzeugen könnten wesentlich mehr Daten und Prozessparameter verwaltet werden als bei einem einfachen Bohrer oder Fräser.
Im Dunstkreis von Industrie 4.0 sind natürlich auch die Themen Industrial Internet of Things (IIoT), Big Data und ganz generell Digitalisierung zu nennen. Keiner dieser Begriffe steht für sich allein.
RFID Identifikation
Ein wichtiger Baustein von Industrie 4.0 in der industriellen Automatisierungstechnik sind für mich die „enabling technologies“ wie zum Beispiel RFID (Radio Frequency Identification) und ganz banal auch industrielle Bussysteme wie Profibus und ProfiNet, also „Real-Time Industrial Etherndet“.
Nichts davon ist nun wirklich neu, oder? Die ersten Felbusse gab es in den 1980er Jahren, RFID Systeme sind ebenfalls seit über 25 Jahren auf dem Markt.
Aber wie hoch ist der Anteil von Anwendern die deren Funktionalität nutzen bzw. überdurchschnittlich nutzen?
Wie viele Firmen setzen BDE, MDE und MES Systeme ein und wie viele nutzen deren Funktionalität voll aus?
Genau zwischen diesen Begriffen „einsetzen“ und „nutzen“ liegt für mich das große Potenzial von Industrie 4.0.
Feldbussysteme
Ganz simpel ausgedrückt, habe ich vor über 30 Jahren gelernt, dass ein Bussystem die aufwendige parallele Verdrahtung vereinfacht.
Lange habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen um zu verstehen, wie ein Sensor, Aktor oder andere Automatisierungskomponenten mit 3 Steckverbindern (Bus-In, Bus-Out, Power), die Verkabelung gegenüber traditionellen Sensoren mit nur einem Stecker und einem Kabel vereinfacht.
Zudem sind bei Bussystemen meist statt normalen geschirmten Leitungen, mehrfach geschirmte twisted-pair Kabel mit hohen Datenraten in Kategorie CAT 5, CAT 6 und CAT 7 (womöglich noch Schleppketten tauglich) notwendig. Dies lässt den Einsatz von solchen Technologien aufwendig und teuer erscheinen.
Da der industrielle Feldbus heute im gesamten Maschinen- und Anlagenbau Standard ist, stellt sich die Frage nach den reinen Mehrkosten der Verdrahtung kaum noch jemand.
Kurze Verschnaufpause, warum eigentlich nicht?
IO-Link
Mit IO-Link hat sich in den letzten Jahren eine Art herstellerübergreifender „Sensor-Bus“ für den letzten Meter (genau genommen die letzten 20 Meter) etabliert, der mit einer einfachen, kostengünstigen 3-adrigen ungeschirmten Leitung auskommt. Dazu ist IO-Link in der Lage die Kommunikation die über den Feldbus möglich ist, weiter bis zum Sensor / Aktor weiter zu führen.
IO-LINK ist kein Bussystem, sondern eine Peer-to-Peer Verbindung um Sensor und Aktorsignale einfach, sicher und digital zu übertragen.
Sicher? Ja richtig, es gibt IO-Link mittlerweile auch als Safety Ausführung in Verbindung mit z.B. PROFIsafe.
IO-Link ergänzt perfekt eine Installation die bereits über Feldbus oder Ethernet kommuniziert.
Niemand braucht einen Miniatursensor in der Bauform M3 mit Feldbusanbindung, das wäre nahezu unbezahlbar und platzmässig kaum realisierbar. IO-Link sammelt Signale von ganz normalen binären Sensoren ein und überträgt die Signale über den Feldbus an die Steuerungsebene. Intelligente Sensoren lassen sich auch über den Feldbus und die Steuerung konfigurieren.
IO-Link Master mit Erweiterungsports zum Anschluss von bis zu 496 Eingängen und 640 binären Ausgängen
Zurück zum Thema:
Aber warum nutzt man dann nicht das gesamte Potenzial, das hinter der eingesetzten Technologie steckt? Vielleicht weil man so manche Möglichkeiten noch nicht erkannt hat?
Festhalten an traditionellen Technologien
Ein weiteres Argument für die traditionelle störungsanfällige analoge Signalübertragung habe ich auch oft gehört.
Analoge Signale kann man einfach mit einem Multimeter überprüfen, bei digitalen Signalen ist ein Oszilloskop, Analyzer bzw. Laptop fürs Troubleshooting notwendig.
Früher oft genanntes Argument gegen Feldbusse „Ich will nicht dass alle meine Monteure ständig mit einem Laptop durch die Welt reisen“.
Nun ja, heute wissen wir dass der Computer nur eine vorübergehende Erscheinung war…
…aber jetzt wieder „Sarkasmus aus“.
Predictive Maintenance
Industrie 4.0 zu Ende gedacht, sollte solche Überlegungen überflüssig machen. Wenn ich von der obersten Steuerungsebene bis zum letzten Sensor durchgängig Zugriff habe, sollte das Troubleshooting nicht mehr Aufgabe des Service Monteurs sein (der heute sowieso seinen Laptop mitschleppt).
Die Anlage kann sich weitgehend selbst überwachen und Fehler lokalisieren, oder im besten Fall durch „predictive maintenance“ Ausfälle schon vorhersehen.
Im Fall des Falles kann aber natürlich auch per online Fernzugriff eine Diagnose gestellt werden.
Da es um die Begriffe preventive maintenance, condition based maintenance und predictive maintenance ab und zu Verwirrung gibt, hier ein Link zur Erläuterung der deutschen Begriffe vorbeugende, zustandsorientierte und prospektive (vorhersagbare) Instandhaltung bei Wikipedia
„Dezentral“ und „transparent“ sind Zauberworte von Industrie 4.0.
Werkzeuge, Werkstücke und Produkte haben Intelligenz an Bord. RFID ist eine der Schlüsseltechnologien auf diesem Weg. Natürlich kann ich überall einen Barcode anbringen. Der sagt mir aber nur etwas, wenn ich eine online Verbindung zu einem System habe, das den Lebenslauf des Teils kennt. Wenn sich ein Prozess selbst steuern soll, müssen Informationen mitgegeben werden und automatisch beschrieben und gelesen werden.
Natürlich brauche ich für die flexible und schlanke Fertigung (Lean production) u.a. auch MES-Systeme z.B. für eine vorausschauende Instandhaltung oder Werkzeugverwaltung.
Wenn ich dazugehörige Informationen aber aus Werkzeugbüchern oder Laufkarten von Hand ins System eingeben muss, bin ich von Industrie 4.0 noch einiges entfernt.
Hier ist ein Ansatz manuelle fehlerbehaftete Vorgänge zu automatisieren.
Wer hier ehrlich rechnet und den heutigen Aufwand ermittelt braucht sich meist um den ROI keine Gedanken zu machen.
Big Data
Big Data steht für das wilde sammeln von allen möglichen Daten.
Braucht die jemand?
Ist das nicht problematisch, Stichwort Datenschutz?
Soll und kann ich Daten in der Cloud auslagern?
Hier spricht man in anderen Ländern gerne von der typischen „German Angst“.
Hier hinken wir meiner Meinung nach hinter anderen Industrieländern hinterher.
Aber was bedeutet die Nutzung von Big Data im Kontext von Industrie 4.0.
Ich speichere alle möglichen Daten meiner Prozesse ab um sie entweder später zur Dokumentation oder Nachverfolgung zur Verfügung zu haben.
Das können Informationen wie Temperaturen, Druck, Vibrationen und andere Parameter meiner Prozesses sein.
Dann sitzt irgendwo ein cyber-physisches System (CPS) um die Daten zu überwachen und auszuwerten.
So könnte man dann in Echtzeit Rückschlüsse auf die Produktqualität und den Zustand der Produktionsanlagen erhalten, ohne erst bei einem Produktrückruf die dokumentierten Datenmengen manuell auszuwerten.
Das ist großteils noch Zukunftsmusik, jedoch bringen uns auch kleine Schritte der (R)evolution näher.
Wir müssen in Deutschland disruptive Trends, die unser aktuelles Geschäftsmodell bedrohen können, erkennen und beobachten. Und wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit verteidigen, am einfachsten mit transparenten und effizienten Prozessen.
Mehr Mut
Ich würde mir wünschen dass wir einfach mal damit anfangen, die Evolution für die Industrie 4.0 steht, anzugehen und mit etwas Mut Entscheidungen treffen. Am liebsten in kleinen überschaubaren Schritten mit altbekannten „enabling technologies“ auch wenn das nicht unbedingt „sexy“ klingt. Ich denke daß dies möglich ist.
RFID kennen wir schon und das Internet ist ja auch nur eine vorübergehende Erscheinung…
Ich kann und will hier natürlich keine allgemein gültigen Aussagen treffen, vielleicht werde ich auch eines besseren belehrt?
Manfred Münzl
Industry Manager bei Balluff